23.06.2021
Von Prof. Dr. Dr. h.c. Werner Weidenfeld, Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Außenpolitik, Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung der Universität München, Rektor der Alma Mater Europaea der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste (Salzburg), Vizepräsident des Cyber-Sicherheitsrats Deutschland (Berlin)
Europa driftet von Krise zu Krise. Der Kontinent findet keine Ruhe. Von der existenziellen Herausforderung der Corona-Pandemie, über die Anhäufung von Schuldenbergen, die Sorge um die Arbeitslosigkeit bis hin zur weltpolitischen Mitverantwortung in einer unfriedlichen Epoche – der Kontinent erscheint ratlos, auf der Suche nach Orientierung. Die große Mehrheit der europäischen Bürger erklärt dazu, dass sie das alles nicht mehr verstehen. Und zugleich erlebt Europa Machtkämpfe aller Art. Es geht schließlich um die künftige Verfasstheit des institutionellen Gefüges, um die künftigen Abläufe der Entscheidungsprozesse.
Der Kontinent muss also Zukunftsstrategien entwickeln, die Elemente der Erfahrungsgemeinschaft in stabile Formen der Identität übertragen lassen. Es geht dabei nicht um irgendeine Klein-Klein-Lösung im Routine-Tagesgeschäft, es geht um große kulturelle Kraftanstrengungen.
Wo liegt Europa? Was macht seine Identität aus? Wo befindet sich der Raum öffentlicher Selbstwahrnehmung der Europäer? Auf solche Fragen findet man seit geraumer Zeit nur Antworten großer Ratlosigkeit. Wo und wie ist der Filter zum Ordnen der eingehenden Informationen der Europäer zu finden? Die Baustelle des Kontinents bedarf einer Ordnung, um zukunftsfähig zu werden.
So kann es nicht überraschen, dass dann die existenzielle Grundsatzfrage unvermeidlich wird: Was hält Europa eigentlich zusammen?
Die Antwort auf diese Frage ist schwer zu finden. Die Politik erschöpft sich weitgehend in situativem Krisenmanagement. Gesellschaftlich bindende Orientierungen? Fehlanzeige.
Die Forderung nach begreifbarer Identität ist aber keine Banalität. Jedes politische System bedarf zur Gewährleistung seiner Handlungsfähigkeit eines Rahmens, auf den sich die Begründungen für Prioritäten und Positionen beziehen. Es bedarf der Filter zum Ordnen aller eingehenden Informationen.
Halten wir uns vor Augen, wie Europa die diversen Schichten der Identität abgelagert hat: Europa war immer zugleich ein geographischer Begriff und eine normative Herausforderung:
Keine dieser Entwicklungen ist vollständig aus unserem europäischen Selbstverständnis verschwunden: die Kombination aus territorialer Expansion und kulturellen Werten, die Frage der Grenzen, das Erbe der Religion in einer säkularen Welt, Migration und Minderheitenkonflikte sowie Europas Geschichte als eine Geschichte der Kriege auch zwischen säkularen Staaten. All diese divergierenden, facettenreichen Faktoren sind wesentliche Teile unseres kollektiven Verständnisses von Europa.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es den Europäern, ihre scheinbar schicksalhaften kriegerischen Auseinandersetzungen zu überwinden. Sie änderten ihr gesamtes System der politischen Zusammenarbeit und der politischen Kultur. Der neue Schlüsselbegriff dieses neuen Systems der Koordination politischen, ökonomischen und kulturellen Lebens war ‚Integration’.
Die aktuellen politischen Erschütterungen des Kontinents vermitteln uns mehr als die traditionelle Reihung europäischer Krisen und die darauf jeweils folgenden Fragmente eines Krisenmanagements. Nunmehr werden erstmals in der Integrationsgeschichte der Nachkriegszeit mit Nachdruck die Sinnfragen des Gesamtprojekts der Einigung Europas aufgeworfen. Was ist der Grund für dieses höchst ungewöhnliche Phänomen? Zunächst erkennt man den Verbrauch früherer normativer Grundlagen. Sie sind in der konfusen Komplexität konsumiert. Und es fehlt als Kompensation ein Zukunftsnarrativ. Europa befindet sich in einer Ära strategischer Sprachlosigkeit.
Europa muss also eine strategische Kultur aufbauen: Neue Vitalität wird Europa nicht aus den herkömmlichen Machtspielen erwachsen. Europa kann heute durchaus als die rettende elementare Antwort auf die Globalisierung und die damit verbundenen vielen Gewaltarenen der internationalen Konfliktlandschaft ein neues Ethos entfalten. Die Tür zu dieser neuen Sinnbegründung wäre geöffnet, wenn Europa ein strategisches Konzept der Differenzierung nach innen und nach außen böte.
Dazu bedarf es eines weiteren Beitrags: Eine komplizierte politische Wirklichkeit, die ihre Identität sucht, braucht den Ort repräsentativer Selbstwahrnehmung. In der klassischen Lehre der repräsentativen Demokratie ist dieser Ort das Parlament. Das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente sind heute jedoch deutlich davon entfernt, der öffentliche Ort der Selbstwahrnehmung einer Gesellschaft mit ihren Zukunftsbildern und Hoffnungen, mit ihren Ängsten und Konflikten zu sein.
Europa muss sich also aktuell als Strategie-Gemeinschaft begreifen, die einen gemeinsamen normativen Horizont realisiert. Es geht also nicht um Traumtänzerei in eine neue historische Epoche. Es geht um die normativ fundierte Gestaltung von Interdependenz. Die Dichte der Verwebung von politischen, ökonomischen, kulturellen, digitalen Sachverhalten hat sich längst jenseits traditioneller Grenzen des Nationalen wie des Regionalen realisiert. Das alles zusammen ist eine wirklich große, ja historische Aufgabe. Es geht um das neue Europa.
Die operativen Umsetzungen der dazu aktuell anstehenden Megathemen liegen auf der Hand:
Ein Blick in die Geschichte zeigt: Krisen haben zunächst Problemdruck ausgelöst, dann zu Lernprozessen geführt und schließlich zu Problemlösungen. Fehlende Antworten auf die Sinnfrage haben zu Katastrophen geführt. Die Orientierung des neuen Europa ist also der geistige Beitrag zur Vermeidung einer Katastrophe.
Zu diesem Katalog fallen kundigen Beobachtern bei einigem Nachdenken schnell weitere wichtige Reformschritte ein:
Wenn man sich diesen Katalog vor Augen hält, dann wird bald der schmerzhafte Problembefund klar: Das Defizit an strategischem Denken erweist sich als die eigentliche Achillesferse Europas. Es existiert bisher keine Agenda, die Europa in Krisen und Konflikten Orientierung bieten könnte. Erst wenn es Europa gelingt, eine Kultur des strategischen Denkens zu entwickeln, wird es eine markante gestalterische Relevanz nach innen und nach außen erhalten und damit auch für die Bürger ein selbstverständlicher Fixpunkt der Argumentation und der Identitätsarchitektur werden. Diese intellektuelle Leistung gilt es unter den europäischen Eliten zu organisieren. Europa als kulturelles und wirtschaftliches, als politisches Projekt, das in einem dynamischen Umfeld gestaltend wirkt: Diesen Begründungszusammenhang operativ und strategisch präzise umzusetzen, ist entscheidend für die angestrebte Stabilisierung und den angestrebten Aufbruch Europas.
Dieses Europa bewegt sich in einer weltpolitischen Architektur die mehrere neue Aggregatzustände aufweist:
Diese digitalisierte und globalisierte multipolare Welt bietet für Europa zwei alternative Handlungsperspektiven: Entweder man wird von den Ereignissen, Problemen und Schwierigkeiten überrollt und zum hilflosen Opfer der Gegebenheiten – oder man wird zum mitverantwortlichen Mitgestalter. Europa wird sich nicht der Mitgestaltung entziehen können und wollen. Dazu braucht es allerdings mehr analytische und konzeptionelle Kraft, um eine gewisse Deutungshoheit zu erringen.
Der durch die neue Weltunordnung herausgeforderte Kontinent kann nicht einfach fortschreiben, was einst für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft mit sechs Mitgliedsstaaten galt. Das erheblich größere Europa mit seinen heute 27 Mitgliedsstaaten muss differenzierter organisiert werden. Bereits seit mehr als zwanzig Jahren erfolgen unsystematisch einzelne Integrationsschritte, an denen sich nicht alle Mitgliedstaaten beteiligen und bei denen man auch nicht auf den letzten Zögerer warten will. Der Schengen-Raum, die Euro-Zone und weitere Projekte zeigen, dass ansatzweise die differenzierte Integration bereits seit geraumer Zeit ein fester Bestandteil des Integrationsprozesses ist.
Differenzierte Integration kann als Laboratorium für das Innovationspotential der Europäischen Union dienen. Die Heterogenität und die schiere Zahl unterschiedlicher Interessen laden geradezu dazu ein, Projekte voranzutreiben, die von einer Gruppe von Staaten für wichtig erachtet werden, die aber keine Realisierungschance im Geleitzug der ganzen Union mit allen Mitgliedsstaaten haben. Dabei bedeutet differenzierte Integration nicht, ein Zwei-Klassen-Europa einzuführen. Die Staaten, die heute den nächsten Schritt nicht vollziehen wollen, haben die Gelegenheit, dies später nachzuvollziehen. Die differenzierte Integration bietet also die Chance, die Handlungsfähigkeit der Union zu sichern und die Probleme zu lösen, ohne Fragen der Selbstverständigung zu ignorieren.
Die Lage ist also höchst kompliziert. Sie entzieht sich unseren bisherigen Beschreibungsversuchen und unserem traditionellen Vokabular. Zu dramatisch, zu tiefgreifend, zu aufregend, zu undurchsichtig wird Europa vom Wandel erfasst. Es wäre eine Verharmlosung, nur mit dem bekannten Routine-Pathos zu antworten.
Wie kann nun die strategische, kulturell fundierte Antwort auf diese höchst schwierige Lage aussehen? Sie kann nicht in dem historischen Hinweis auf die Gründerzeiten und ihre Erfolge bestehen – was häufig genug versucht wird. Manche politische Kulisse der Integration stammt noch aus den Gründerzeiten , als Antwort auf die Kriegserfahrung zu geben war – oder dann, als die Einigung politisches Überlebensprinzip im weltpolitischen Konflikt zwischen Ost und West war. Alles das ist heute weitgehend konsumiert. Es bedarf also jetzt der großen Verständigung auf neue Begründungskonstellationen, die Europa in der neuen historischen Epoche bestehen lassen. Das kann nur gelingen, wenn Europa eine neue strategische Kultur entwickelt.
Titelbild: Michael Dziedzic / unsplash.com
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