23.06.2021
Von Markus Ferber, MdEP, wirtschaftspolitischer Sprecher der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament und Vorsitzender der Hanns-Seidel-Stiftung
Der Multilateralismus befindet sich in einer Krise. Die Europäische Union tut sich in der Außenhandelspolitik zunehmend schwer, die Welthandelsorganisation ist weitgehend handlungsunfähig und China stößt in das politische Vakuum. Um weiterhin relevant zu bleiben, muss sich die Europäische Union handelspolitisch neu aufstellen.
Zu Beginn der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts befindet sich der Multilateralismus in einer Krise. Während es nach dem Fall des Eisernen Vorhangs gemeinhin die Erwartungshaltung gab, dass sich die einstigen Widersacher in Ost und West gemeinsam mit den Staaten des Globalen Südens auf ein neues harmonisches Miteinander einlassen würden und fortan auf Basis einer demokratischen, rechtsstaatlichen und marktwirtschaftlichen Grundüberzeugung kooperieren würden, sieht die Realität dreißig Jahre später leider vollkommen anders aus: erfreuliche Entwicklungen in den 1990er Jahren hin zu Marktöffnungen und einer allgemeinen Liberalisierung des Welthandels haben sich in den vergangenen Jahren nicht ohne weiteres fortgesetzt. Im Gegenteil: die Dynamik des Welthandels hat sich dramatisch abgeschwächt, Institutionen wie die Welthandelsorganisation treten auf der Stelle, die Europäische Union hat erstmals einen Mitgliedstaat verloren und die USA haben sich eine vierjährige Auszeit von ihrer Rolle als globale Führungsmacht und Botschafter des Freihandels gegönnt. Gleichzeitig hat die Corona-Krise, die sowohl internationale Wertschöpfungsketten als auch der internationalen Diplomatie einen schweren Schlag versetzt hat, die Problemlage noch einmal zugespitzt. Da die Anfälligkeit international verwobener Wertschöpfungsketten im Frühjahr 2020 sehr deutlich wurde, dreht sich in vielen Ländern die handelspolitische Diskussion eher um die Frage, an welchen Hebeln man ziehen muss, um die Unabhängigkeit von seinen internationalen Handelspartnern zu erhöhen. Der Grat zum Protektionismus ist schmal.
Wenngleich die derzeitige Bestandsaufnahme ernüchternd ausfällt, gibt es doch Hoffnungsschimmer. Die neue US-Administration unter Joe Biden wird aller Voraussicht nach wieder eine konstruktivere Rolle in der Welt einnehmen. Nach vier Jahren „America First“ dürften die USA wieder eine aktivere Außenpolitik verfolgen, eine Handelspolitik betreiben, die über das Verhängen von Strafzöllen hinausgeht, und sich internationalen Institutionen und Vereinbarungen wieder zuwenden. Von dieser Rückbesinnung auf einstige Stärken ist bestenfalls auch ein Impuls zur Reform der Welthandelsorganisation zu erwarten. Auch die Europäische Kommission unter Ursula von der Leyen hat gelobt, sich nicht nur mit sich selbst zu beschäftigen, sondern als „geopolitische Kommission“ Europas Rolle in der Welt aktiv zu definieren.
Diese neue Orientierung nach außen ist auch dringend geboten. Schließlich hat die Europäische Union in den vergangenen Jahren von der Ost-Erweiterung über den Umgang mit der Finanz- und Staatsschuldenkrise, dem Umgang mit der Flüchtlingskrise, dem Brexit und nun den Auswirkungen der Corona-Pandemie vor allem Nabelschau betrieben. Die Handelspolitik hat vor dem Hintergrund dieser Gemengelage eine eher untergeordnete Rolle eingenommen. Die Ausnahme war natürlich der Brexit und die darauffolgenden Verhandlungen über das künftige Verhältnis mit dem Vereinigten Königreich. Hier standen die Handelsbeziehungen zwar im Fokus, es ging aber vor allem darum, wie man die Rückschritte gegenüber bereits bestehenden Handelsbeziehungen mit einem ehemaligen EU-Mitgliedstaat möglichst begrenzen kann. Wenn für ein solches Projekt über Jahre hinweg beachtliche personelle und politische Ressourcen aufgewendet werden, bleibt nicht aus, dass das aktive Gestalten der Welthandelsordnung in den Hintergrund tritt.
Zweifelsohne muss der handelspolitische Anspruch der Europäischen Union darüber hinausgehen, Schäden an bestehenden Handelsbeziehungen zu minimieren. Das gilt umso mehr als die handelspolitische Zusammenarbeit über die Europäische Union für ihre Mitgliedstaaten schlichtweg zu einer Notwendigkeit geworden ist. Der relative Anteil am Welthandel, den selbst ein führendes Exportland wie Deutschland für sich reklamieren kann, hat über die Zeit abgenommen und wird es aller Voraussicht nach auch weiterhin tun. Dies gilt für kleinere Volkswirtschaften in der Europäischen Union umso mehr. Zusammengenommen machen die Mitgliedstaaten der Europäischen Union aber noch immer etwa ein Sechstel der Weltwirtschaftsleistung aus und sind damit ein größerer Wirtschaftsraum als jeder Drittstaat für sich genommen. Wenn die Mitgliedstaaten der Europäischen Union also gemeinsam ihr Gewicht in die Wagschale werfen, ist die EU auch auf internationaler Bühne ein gewichtiger Spieler. Wie niemals zuvor gilt für die EU also, dass die Mitgliedstaaten nur gemeinsam stark sind.
Diese Stärke, die zumindest in der Theorie besteht, muss die Europäische Union nutzen, um die Welthandelsagenda in ihrem Sinne zu beeinflussen. Angesichts der Tatsache, dass die Welthandelsorganisation, die die eigentliche treibende Kraft hinter einem regelbasierten multilateralen Handelssystem sein sollte, seit Jahren hinter den Erwartungen zurückbleibt, wäre es an der EU zur Lokomotive des Welthandels zu werden. Das gilt umso mehr, als die Handelspolitik ein potentes Mittel darstellen kann, um auch unsere Ziele in anderen Politikbereichen in die Welt zu exportieren.
Leider hat die Europäische Union in Handelsfragen in den vergangenen Jahren allenfalls eine gemischte Bilanz vorzuweisen. Während mit Japan, Singapur und Vietnam einige Erfolge im asiatischen Raum zu Buche stehen, haben sich die Verhandlungen mit unseren transatlantischen Partnern in vielen Fällen als ausgesprochen schwierig herausgestellt. Das avisierte transatlantische Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten (TTIP), das die transatlantischen Handelsbeziehungen auf eine neue Ebene gehoben hätte und auch Standards für andere Freihandelsabkommen gesetzt hätte, ist am Ende nicht zustande gekommen. Die Verhandlungen wurden über Jahre in der europäischen Öffentlichkeit zum Teil sehr kritisch begleitet. Dabei wurden vor allem von Nichtregierungsorganisationen immer wieder vermeintlich intransparente Verfahrensabläufe, eine angebliche Aushöhlung von Verbraucherschutzstandards sowie vermeintlich undemokratische Schiedsgerichtsverfahren zur Streitbeilegung und zum Investitionsschutz kritisiert. Nach der Amtsübernahme von Donald Trump als Präsident der Vereinigten Staaten wurden die Verhandlungen nicht weitergeführt, während sich die amerikanisch-europäischen Handelsbeziehungen graduell immer weiter verschlechtert haben, was sich in immer neuen Runden von Strafzöllen manifestiert hat.
Die Verhandlungen zum Abkommen mit Kanada (CETA), das deutlich überschaubarere wirtschaftliche Vorteile mit sich bringt als TTIP, wurde lange Zeit von ähnlich kritischen Diskursen begleitet wie TTIP. Im Unterschied zum Abkommen mit den USA hat sich die kanadische Regierung jedoch klar zum Abkommen bekannt. Auf europäischer Seite wurde zumindest der Teil des Abkommens, der unter alleinige europäische Zuständigkeit fällt, ratifiziert, wodurch CETA zumindest teilweise in Kraft treten konnte.
Die Verhandlungen mit den südamerikanischen Mercosur-Staaten (Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay) wurden zwar im Jahr 2019 erfolgreich abgeschlossen, abermals hakt es jedoch bei der Ratifizierung. So haben bereits mehrere EU-Mitgliedstaaten klargemacht, dass sie das Abkommen in seiner jetzigen Form nicht für annahmefähig halten. Abermals stehen Zweifel an Umwelt- und Sozialstandards – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der fragwürdigen umweltpolitischen Bilanz der brasilianischen Regierung unter Jair Bolsonaro -, aber auch die Bedenken europäischer Landwirte im Zentrum der Kritik am Mercosur-Abkommen. Trotz der vielstimmigen Kritik von europäischen Akteuren hat sich jedoch noch keine klare europäische Position herauskristallisiert, was auch die Chance auf Nachverhandlungen gering erscheinen lässt. Diese würden auch vom Umstand erschwert, dass insbesondere die brasilianische Regierung in umwelt- und klimaschutzpolitischen Fragen auf ihre Souveränität pocht und wenig kompromissbereit scheint. Vor diesem Hintergrund sieht es also derzeit so aus, als ob auch das Mecosur-Abkommen zumindest auf absehbare Zeit nicht zustande kommen wird.
Die durchwachsene Bilanz der EU in den letzten Jahren hat nicht nur dazu geführt, dass Zölle in Milliardenhöhe sowie weitere schwerer zu quantifizierende nicht-tarifäre Handelshemmnisse nicht abgebaut wurden, was in letzter Konsequenz einen beachtlichen Wohlstandsverlust für alle Beteiligten darstellt, sondern auch dazu, dass die EU die Welthandelsordnung eben nicht in dem Maße mitbestimmen konnte, wie wir es uns gewünscht hätten. Die Europäische Union ist nach wie vor ein großer und attraktiver Markt. Für Zugang zu diesem Markt sind viele Handelspartner bereit einen gewissen Preis zu zahlen. Genau deshalb kann Handelspolitik ein wirksames Instrument dafür sein, europäische Werte und Politikziele auf internationaler Ebene durchzusetzen. Mindeststandards beim Umweltschutz, bei den Menschenrechten, bei Arbeits- und Sozialstandards und beim Verbraucherschutz werden sich am Ende aber nur dann durchsetzen lassen, wenn wir sie in internationalen Abkommen verankern können. Hier gilt es also auch stets abzuwägen, wie hoch wir unsere Anforderungen an Drittstaaten formulieren wollen. Ist es am Ende besser ein Abkommen nicht abzuschließen, weil die Standards im Bereich Umweltschutz nicht ganz den europäischen entsprechen – auch wenn wir damit riskieren, dass es statt schrittweisem Fortschritt in den betroffenen Drittstaaten gar keinen Fortschritt gibt? Hier läuft der öffentliche Diskurs in Europa leider oft zu undifferenziert ab, da nur in absoluten Gewissheiten gedacht wird.
Das wird umso mehr dann zum Problem, wenn andere Akteure auf der Weltbühne nicht dieselben Standards anlegen wie wir Europäer oder unsere Verbündeten. In Asien haben wir genau dies gerade gesehen. Zunächst haben die USA sich aus dem Transpazifischen Partnerschaftsabkommen zurückgezogen (TPP), das in leicht veränderter Form am Ende zwar trotzdem zustande kam, aber eben ohne den größten Unterzeichnerstaat. Dadurch ist ein handelspolitisches Vakuum in der Region entstanden, dass die aufstrebende Supermacht China geschickt zu nutzen wusste. Mit der Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP) ist unter chinesischer Führung die größte Freihandelszone der Welt entstanden, die immerhin ein knappes Drittel der Weltbevölkerung und einen ähnlichen großen Teil des Weltsozialproduktes umfasst.
Die direkten und unmittelbaren ökonomischen Auswirkungen des RCEPs auf die EU dürften zwar zunächst überschaubar bleiben, auch weil die Ratifizierung und Implementierung des neuen Abkommens einige Zeit in Anspruch nehmen wird. Die geopolitischen Implikationen von RCEP sind jedoch beachtlich. China positioniert sich mit diesem Abkommen als ernstzunehmender handelspolitischer Akteur auf der Weltbühne – und damit auch als ein Konkurrent zur Europäischen Union in handelspolitischen Fragen. Zwar ist Handelspolitik bekanntlich kein Nullsummenspiel, es ist aber nichtsdestoweniger davon auszugehen, dass Drittstaaten, die eine handelspolitische Öffnung anstreben, sehr wohl registrieren, dass sie nervenzehrende Verhandlungen über Umwelt- und Sozialstandards bei Verhandlungen mit China vermeiden können, während diese zunehmend weiter oben auf der Liste der europäischen Verhandlungsthemen stehen. China setzt mit diesem Ansatz nicht nur seine handelspolitischen Präferenzen um, sondern stärkt auch seinen geostrategischen Ansatz in der Region.
Aus europäischer Sicht ergibt sich mittelfristig auch die Notwendigkeit die eigene Handelsagenda in Asien weiter voranzutreiben und an die bisherigen Abkommen mit Japan, Südkorea, Singapur und Vietnam anzuknüpfen, um sicherzustellen, dass europäische Unternehmen im gesamten Pazifik-Raum zu ähnlichen Konditionen Handel treiben können wie solche aus RCEP-Mitgliedern. Andernfalls drohen Verdrängungseffekte hinsichtlich der Handelsströme im asiatisch-pazifischen Raum, die sich für europäische Unternehme nachteilig auswirken könnten.
Vor dem Hintergrund der beschriebenen Verschiebungen im Welthandelssystem muss die Europäische Union die Angemessenheit ihres handelspolitischen Ansatzes und ihrer handelspolitischen Instrumente grundsätzlich überprüfen. Die Europäische Kommission hat zu diesem Zweck im Juni 2020 eine öffentliche Konsultation initiiert, deren Ergebnisse in einer neuen Handelsstrategie münden sollen. Mitte Februar 2021 hat die Europäische Kommission im Rahmen einer Mitteilung zu einer offenen, nachhaltigen und durchsetzungsfähigen EU-Handelspolitik erste Ergebnisse dieser Überprüfung veröffentlicht und dabei das Konzept der „offenen strategischen Autonomie“ in den Mittelpunkt gerückt. Die Mitteilung der Kommission kann aber nur der erste Ausgangspunkt für eine breitere politische Debatte sein. Dabei muss die Frage im Fokus stehen, was die neue Strategie leisten soll.
Zunächst sollte diese Strategie die übergreifenden Ziele der europäischen Handelspolitik verbindlich klären. Die innereuropäischen Konflikte rund um TTIP, CETA und das Mercosur-Abkommen haben leider sehr deutlich gemacht, dass es bei den an der europäischen Handelspolitik beteiligten politischen Akteuren (Kommission, Europäisches Parlament, Mitgliedstaaten und nationale Parlamente) offenbar unterschiedliche Vorstellungen hinsichtlich der durch die europäische Handelspolitik zu erreichenden Ziele und deren Rangfolge gibt. Dies erschwert die Durchführung einer effektiven Außenhandelspolitik, da die Europäische Kommission ihren Verhandlungspartnern nicht glaubhaft versichern kann, dass etwaige Zugeständnisse in den Verhandlungen auch tatsächlich dazu führen, dass ein Abkommen in der EU ratifiziert wird. Wenn jedoch in internationalen Verhandlungen die Autorität der Europäischen Kommission als Verhandlungsführerin in Frage steht, unterminiert dies einen der wesentlichen Vorzüge einer gemeinsamen europäischen Handelspolitik, nämlich das Sprechen mit einer Stimme.
Die oberste Priorität der neuen europäischen Handelsstrategie sollte in der Wiederbelebung der Welthandelsorganisation bestehen, denn eine Freihandelsagenda, die von einer breiten Zahl von Ländern gestützt wird, bringt potentiell die größten Handelserleichterungen und damit die größten Wohlstandsgewinne mit sich. Bilaterale, also Abkommen mit einem Handelspartner, oder plurilaterale Abkommen, also Abkommen mit einigen wenigen Akteuren, sind gegenüber echten multilateralen Verträgen, die eine große Zahl an Teilnehmerstaaten einschließen, grundsätzlich nur die zweitbeste Lösung.
Leider befindet sich ausgerechnet diejenige Organisation, die sich im Zentrum der multilateralen Handelsordnung befindet, nämlich die Welthandelsorganisation, seit geraumer Zeit im Dornröschenschlaf. In den vergangenen Jahren bot die WTO weder ein Forum, um die weitere Liberalisierung des Welthandels voranzutreiben noch um die Einhaltung und Durchsetzung bereits bestehender WTO-Abkommen zu erreichen und Konflikte zwischen Vertragsparteien zu schlichten. Zumindest das letztgenannte Problem sollte sich bereits dadurch wesentlich lindern lassen, dass die USA ihre bisherige Blockade der Nach- bzw. Neubesetzung von Mitgliedern im WTO-Berufungsgremium aufgeben. Jedoch würde auch eine Neubesetzung der Mitglieder des Berufungsgremiums die grundsätzliche Kritik, die viele WTO-Mitgliedstaaten am derzeitigen Berufungssystem hegen, nicht auflösen, weshalb hier zumindest mittelfristig über strukturelle Lösungen nachgedacht werden muss.
In den ersten Wochen der neuen US-Administration hat sich zumindest bereits der Streit um die politische Führung der WTO lösen lassen. Ab 1. März 2021 führt die Nigerianerin Ngozi Okonjo-Iweala die Welthandelsorganisation. Ihr stehen jedoch schwierige Aufgaben hinsichtlich der Reform der WTO bevor.
Diese beiden Aspekte zeigen bereits, dass eine weitreichende Reform der Welthandelsorganisation nicht gegen, sondern nur gemeinsam mit den USA gelingen kann. Ein Baustein der neuen europäischen Handelsstrategie muss deshalb ein mit den internationalen Partnern und vor allen mit den USA abgestimmter Vorschlag für eine Modernisierung der WTO sein. Neben den institutionellen und organisatorischen Fragen muss dabei auch ein Anlauf für eine Modernisierung der bisherigen WTO-Abkommen genommen werden. Viele der derzeit gültigen Abkommen sollten mittelfristig um Aspekte wie die Digitalisierung des Handels und Nachhaltigkeitsaspekte ergänzt werden. Wenn diese Faktoren nicht adressiert werden, drohen die WTO-Regeln im 20. Jahrhundert stecken zu bleiben und für den Welthandel der Zukunft stetig weniger relevant zu werden.
Europa und die Vereinigten Staaten waren in den vergangenen Jahrzehnten große Profiteure eines regelbasierten Welthandelssystems. Aus diesem Grund und aufgrund der zentralen Rolle der USA in wesentlichen Entscheidungsstrukturen, sind die USA der natürliche Partner Europas, wenn es um die Stärkung des Welthandelssystems geht. Während eine erfolgreiche WTO-Reform die Grundlinie für den künftigen Welthandel markieren kann, ist klar, dass auch die ambitionierteste Reform letztendlich ein Kompromiss auf Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners darstellen wird. Dies ist angesichts der unterschiedlichen – und teilweise widerstrebenden – Interessenlagen der WTO-Mitglieder ein erwartbares Ergebnis. Deswegen lohnt es sich mit denjenigen Staaten, mit denen es eine größere Schnittmenge gibt, auch über WTO-Vereinbarungen hinauszugehen und weiter- und tiefergehende Abkommen auszuhandeln, solange diese mit dem Rahmenwerk der WTO im Einklang stehen. Die Vereinigten Staaten bleiben dafür ein natürlicher Partner. Während der erste Anlauf für ein umfassendes Freihandelsabkommen mit den USA wie oben skizziert nicht gelungen ist, sollte das die Europäische Union nicht davon abhalten einen neuen Versuch zu wagen. Schließlich zeigt sich die neue US-Administration unter Joe Biden deutlich weltoffener und kooperationsbereiter als ihre Vorgängerregierung. Entsprechend wäre es eine vertane Chance, lediglich die Eskalationsspirale rund um immer neue Strafzölle zu beenden. Zweifelsohne müssten für ein neues transatlantisches Freihandelsabkommen die richtigen Konsequenzen aus dem Scheitern von TTIP gezogen werden. Es würde sich in jedem Fall lohnen zumindest diejenigen Aspekte, die sich bei TTIP als konsensfähig herausgestellt haben, noch einmal aufzugreifen. Kontroverse Bereiche wie den Investitionsschutz und die damit verbundenen Schiedsgerichte sollten ausgeklammert werden und der Fokus stattdessen auf weniger kontroverse Punkte wie die Angleichung von technischen Standards und die gegenseitige Anerkennung von Zulassungsverfahren gelegt werden. Selbst wenn das Ambitionsniveau damit hinter dem von TTIP zurückbleiben würde, wäre zumindest ein Grundstein für eine vertiefte Handelsbeziehung mit dem strategisch wichtigsten Partner gelegt. Ein solches Abkommen könnte dann in der Zukunft sukzessive um weitere Themen und Aspekte erweitert werden und würde für den Moment ein neues Grundverständnis zwischen zwei der größten Wirtschaftsblöcke der Welt zementieren.
Die Bestandsaufnahme zu Multilateralismus und Welthandelssystem mag im Moment ernüchternd ausfallen. Europa stand sich in den vergangenen Jahren oft selbst im Weg, Verbündete wie die USA haben enttäuscht und geostrategische Konkurrenten haben das Heft des Handelns übernommen. Die düstere Bestandsaufnahme muss aber keinesfalls bedeuten, dass sich diese Trends auch in Zukunft nahtlos fortsetzen und die Europäische Union auf Dauer zum Zuschauer degradiert wird. Wenn wir die multilaterale Welthandelsordnung aber auf Dauer mitgestalten wollen, muss die EU eine proaktivere Rolle in der internationalen Handelspolitik einnehmen. Dabei muss die EU zunächst ihre handelspolitischen Ziele genau definieren, eine neue Partnerschaft mit den USA anstreben und die Reform der Welthandelsorganisation vorantreiben.
Titelbild: Christian Lue / unsplash.com
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