Weihnachtsbrief unseres Mitglieds Dr. Peter Strüven

18.01.2023

Liebe Freunde,

ich wollte dieses Jahr keinen Weihnachtsbrief schreiben. Der letzte war zu lang und enthielt bereits die wesentlichen Gedanken zu den Herausforderungen und den Erklärungen, warum Lösungen in unseren liberalen Demokratien so unendlich schwer zu finden und umzusetzen sind. Die vielen Erwartungsbekundungen und die dabei zum Ausdruck gebrachte Vorfreude haben mich umgestimmt. Letztere ist allerding nur bedingt nachzuvollziehen, Freude kommt bei Betrachtungen zum State of the World, wie er sich uns gerade darstellt, weniger auf. 

Im letzten Jahr hat cringe als Überschrift gereicht. Wir könnten es wiederverwenden. Daneben böte sich das Wort des Jahres Zeitenwende an, wenn sie denn nicht bereits einen politikimmanenten Makel hätte: ein großes Wort mit unzureichenden Konsequenzen. Aller Schwindel beginnt mit einem Metaphernschwindel, sagte Botho Strauß. Bisher manifestiert sich die Zeitenwende in Deutschland darin, dass die SPD 100 Milliarden für neue Waffen ausgibt, die Grünen durch die Welt fliegen, um in Autokratien und Diktaturen nach neuen fossilen Brennstoffen zu suchen und die FDP Schulden in großem Stil aufnimmt, um das alles zu bezahlen (S.Gabriel). 

Vor einer Zeitenwende stehen wir ganz sicherlich. Die Nachkriegsordnung wurde endgültig zerstört. Würden die letzten checks-and-balance Mechanismen der amerikanischen Demokratie nicht mehr funktionieren, hätte Trump das schon während seiner zweiten Amtszeit erledigt – auf dem Weg war er. Nun hat es Putin gemacht – nicht nur mit der Unterstützung Xis, aber auch. 

Die Auswirkungen des Ukraine-Krieges auf die Weltordnung sind unklar und vielfältig – nicht zuletzt, da es unterschiedliche Narrative gibt. 

Die Vokabeln des Westens sind Imperialismus, Nationalismus, Revisionismus, großrussische Verblendung, menschenverachtend, brutal, völkerrechtswidrig, Tabubruch durch Nuklearkriegsdrohung. Alles zutreffend. Zuwenig wird darauf hingewiesen, dass er ja nicht nur dem ukrainischen, sondern auch seinem eigenen Volk die Zukunft zerstört – auch wenn dieses ihm bisher noch zujubelt, vornehmlich aus Unkenntnis und weil die Wucht der Auswirkungen auf Wirtschaft und Zukunftsgestaltung noch nicht voll zu spüren sind. 

Russland will den Westen, der die russische Nation versklaven will, in die Schranken weisen, am besten seine Vorherrschaft überwinden, das großrussische Reich wieder errichten und die Russen im Westen des Reiches (Ukrainer) von den Nazis befreien. Er will die NATO in die Grenzen von vor 1990 zurückdrängen und die alten Machtblöcke wieder installieren. Revisionistische Politik des 19. Jahrhunderts mit Mitteln des 20. Jahrhunderts zur Weltveränderung im 21. Jahrhundert. So seine Sicht der Dinge. 

Zwischen beiden Narrativen ist die Kluft grenzenlos. 

Putins Narrativ ist unglaubwürdig. Die NATO-Osterweiterung geschah schon vor 15-20 Jahren. Und sie geschah, weil die ehemaligen Ostblockländer es wollten. Eine bindende schriftliche Erklärung zur Erweiterung gab es nur in den 4+2-Gesprächen zur deutschen Einheit, und die bezog sich auf Ostdeutschland. Über die damaligen Warschauer Pakt-Staaten zu sprechen war auch nicht geboten, da es den Warschauer Pakt damals ja noch gab. Kein russischer Militärexperte kann ernsthaft glauben, dass die NATO Russland angreifen wolle – zu intensiv waren die Beziehungen und Konsultationen. Und Deutschland und Frankreich haben es verhindert, dass die Ukraine auf Wunsch der USA in die NATO aufgenommen wurde! Damals richtig, im Nachhinein eher ein Fehler, aber gleichzeitig Zeugnis für die Rücksichtnahme des Westens auf russische Befindlichkeiten. 

Nein, die Angst vor der NATO ist nur eine der vielen allfälligen Lügen. Putin geht es vielmehr um die Zerstörung der Ukraine. Das Schlimmste, das ihm passieren kann, ist ein Brudervolk, das sich im Rahmen der westlichen Demokratien erfolgreich entwickelt. Ein Maidan auf dem Roten Platz könnte die Folge sein – ein Desaster für Putin. 

Denn da die zerstörte Ukraine, aus der die Intelligenzia geflohen ist, die kaum noch eine funktionierende Infrastruktur besitzt, für deren Wiederaufbau er selbst weder Geld hat noch es je bereitstellen würde, für Putin keinen Wert mehr hat – außer sie dem eigenen Volk als revisionistische großrussische Beute zu präsentieren, kann nur die Zerstörung dieser Beute selbst das Ziel sein. Ganz sicherlich ist sie es heute. 

Sind Fehler gemacht worden? Ziemlich sicher. Es ist für uns Außenstehende nur schwer möglich, diese zu beurteilen. Selbst der Start von Nordstream 2 nach der Annexion der Krim, der im Nachhinein – obwohl von vielen mitgetragen – eher ein Fehler war, unterliegt unterschiedlichen Bewertungen. Teilnehmer der Minsker 2+2-Gespräche machen darauf aufmerksam, dass es höchst schwierig gewesen wäre, Putin damals zu sagen „Zieht euch zurück und dafür bauen wir die Pipeline nicht“. Das mag auch stimmen, aber es rechtfertigt nicht, warum auch nach dem permanenten Bruch des Minsker Abkommens durch Putin dieses Projekt noch bis zum 24.Februar 2022 als privatwirtschaftliches deklariert und behandelt wurde, obwohl es von Beginn an ein höchst sicherheitsstrategisches war. Denn einerseits wähnten wir uns in einer Scheinsicherheit, da wir glaubten, keine Terminals für LNG, keine Pipeline nach Algerien bauen und die Speicher nicht füllen zu müssen. Und andererseits wurden die Russen von den Transits durch die Ukraine, die viel kosteten, große Netzverluste brachten und Russland erpressbar machten, unabhängiger. Zwei unverständliche strategische Fehleinschätzungen. 

Soweit unsere Sicht. Die Welt sieht das zum Teil anders. Es war nie einfach und wird zusehends schwerer, einen großen Teil der Welt von unseren Überzeugungen zur liberalen Demokratie als die beste Staatsform und z.T. auch von unserem absoluten Maßstab der Menschenrechte und des Rechts als Basis der geopolitischen Ordnung und der Staatsverfassungen zu überzeugen. 

Der Economist veröffentlich periodisch seinen Democracy Index, in dem er knapp 170 Länder untersucht, inwiefern sie den Bedingungen einer Demokratie genügen (Wahlsysteme und -durchführung, Unabhängigkeit der Justiz und der Medien etc). Der Bericht 2021 führt lediglich 20 vollständige Demokratien (10 davon in Europa) auf, aber 50 unvollständige Demokratien 

(darunter z.B. Ungarn, USA und Thailand), 30 Hybride Systeme ( i.W. in Südamerika und Asien) und 70 autoritäre Systeme (China, Russland, Irak, Kuwait, etc). A New Low for the Global Democracy war die Überschrift. Es scheint, als würde Ralph Darendorff recht behalten, als er bereits vor 20 Jahren sagte, dass dieses das Jahrhundert der Autokratien werden würde. 

Selbst die Abstimmung nach dem Überfall auf die Ukraine in der UN gab kein eindeutiges Bild – 140 Länder verurteilten den Krieg (was der Westen als Sieg gedeutet hat), 60 enthielten sich. Und der weitaus größte Teil der über 200 Nationen schloss sich den Sanktionen – geschweige denn der militärischen Unterstützung der Ukraine – nicht an. Das hat Gründe, die wir nicht teilen müssen, die wir aber im Umgang mit unserer eigenen Zukunft und der Systemauseinandersetzung zumindest kennen sollten: 

  • Die meisten Nationen in der Welt haben keinen ideologischen oder moralischen Blick auf die Welt und die Demokratie, sondern einen pragmatischen. Die ökonomische Entwicklung, mehr Wohlstand, die Eigeninteressen stehen an erster Stelle. Auch eine nachhaltige ökologische Sicht wird eher dann eingenommen, wenn ersteres nicht gefährdet wird und wenn es um Forderungen an die westliche Welt geht, für die Folgen der Umweltzerstörung aufzukommen. Vor ein paar Jahren hatte ich eine intensive Diskussion mit einem chinesischen Manager in Singapore über eben die Frage des besseren politischen Systems (Singapur gehört zu den hybriden Systemen und hat einen mittlerweile vergleichbaren Lebensstandard wie die führenden europäischen Länder). Am Ende fragte er mich: Ist es denn wirklich so entscheidend, ob Ihr Eure Bundeskanzler öffentlich als verrückt, dumm, korrupt etc bezeichnen könnt, ohne ins Gefängnis zu wandern – uns oder den Chinesen in der PRC dieses Privileg aber nicht zusteht? Oder um es mit Bertold Brecht zu sagen: Erst das Fressen und dann die Moral. Die Staatsform – und damit auch die Demokratie – ist für viele Länder kein Wert an sich, sondern eher Mittel zum Zweck. 
  • Nicht wenige Länder werfen dem Westen Doppelzüngigkeit und moralische Fragwürdigkeit vor. Myanmar interessiert die Europäer nicht. Im Jemenkrieg mit zigtausenden Toten und Millionen Hungernden liefern wir sogar einer Seite Waffen. Vor dem Ukrainekrieg sollen 60% der Hilfsgelder in den Jemen geflossen sein, seitdem nur noch 2% (kann ich nicht nachprüfen). Und auch der Irakkrieg wurde völkerrechtswidrig geführt. So die Vorwürfe. 
  • Der Westen hat es in den Augen Vieler in den letzten 10-15 Jahren geschafft, seine eigenen Wohlstandsgrundlagen zu unterminieren. Im Zusammenhang mit den Sanktionen gegenüber Russland ist das für diese Staaten noch deutlicher sichtbar. Vor einigen Wochen hatte ich ein intensives Gespräch darüber mit einem befreundeten, sehr erfolgreichen malaysischen Geschäftsmann Ich erläuterte ihm, dass die Sanktionen der kleine Bruder der militärischen Auseinandersetzung sind, um der Diplomatie die nötige Aufmerksamkeit zu geben. Sie seien für Staaten, die zu Letzterem nicht willens oder in der Lage sind (wie Deutschland), die einzige Möglichkeit, um in diesem Konflikt zu agieren. Seine Antwort: Was macht Ihr da, Peter, ich kann Euch nicht verstehen! Es ist Euer Land – wollt Ihr es mutwillig zerstören? Einem solchen System folgt man nicht uneingeschränkt. Viele Asiaten, Südamerikaner und Afrikaner können nicht verstehen, dass uns die Verteidigung der Freiheit und der Menschenrechte in der Ukraine wichtiger sind als das eigene Wohlergehen. Man muss diesen Standpunkt nicht teilen, sollte ihn aber kennen. 
  • Ebenso ist der Nachhall der Kolonialzeit nicht zu unterschätzen, wie der Westen diesen Teil der Welt, der auf dem Weg zu wirtschaftlicher Stärke und politischem Selbstbewusstsein ist (insbesondere Indien, Indonesien, Vietnam, Brasilien, Argentinien, Nigeria, Ägypten, Südafrika), von der Kolonialzeit bis heute behandelt hat: in einer Mischung aus rücksichtsloser Ausbeutung und überheblichem Desinteresse. Mit diesen Geschichten im Kopf betrachten diese Länder die Politiker aus westlichen Industriestaaten als ‚postkoloniale Klugscheißer‘ (DIE ZEIT). 
  • Und last not least: Viele Länder des globalen Südens finden den Gedanken einer neuen Weltordnung durchaus attraktiv. Die heutige steht unter der Führung der USA, wurde federführend von ihnen entwickelt und ist vollkommen westlich dominiert (siehe wichtige Institutionen wie IMF und Weltbank, die grundsätzlich nur von Europäern und Amerikanern geführt werden). Die Hoffnung ist, dass die Macht fairer verteilt sein wird, dass die Balance besser stimmt – was sicherlich zweifelhaft ist. Aus Sicht von Xi (und natürlich seines geopolitischen Vasallen Putin) kann diese neue Weltordnung nur durch die Führung von China entstehen – und Xi tut alles, um sich als eben diese Führungsfigur zu etablieren – zumindest auf Augenhöhe mit den USA. Er hat den Krieg bisher nicht verurteilt. 

Die Verurteilung des Angriffskrieges Russlands hat viele Gesichter – nicht nur ein westliches. Unabhängig von der Sicht der Staatengemeinschaft auf den von Putin angezettelten Krieg ergeben sich nicht nur aber auch daraus vier Fragen globaler Bedeutung. 1. Welche Möglichkeiten für die Zukunft Russlands und Putins sind in absehbarer Zeit denkbar? 2. Welchen Weg könnte eine neue Weltordnung nehmen? 3. Worauf müssen wir uns hinsichtlich der Rolle Chinas nach dem 15. Parteitag der KPC einstellen? 4. Welche Rolle können, müssen der Westen, die USA und Deutschland spielen? 

1. Russland 

Putin hat über die letzten 10-20 Jahre eine vertikale Machtstruktur aufgebaut, die ausschließlich auf seine Person, gestützt durch die Geheimdienste, zugeschnitten ist. Gleichzeitig hat er die wirtschaftliche Entwicklung zugunsten machtpolitischer, militärischer Ziele geopfert. Die Basis des russischen Reichtums, fossile Rohstoffe, werden eine zunehmend schwindende Rolle spielen. Ein scharfer Einbruch des Lebensstandards wird spätestens nach dem Ukrainekrieg sicht- und fühlbar werden. Stattdessen hat er sich einem faschistischen Hypernationalismus als Machtbasis verschrieben. Dieser kann immer nur von einem Mann (Frauen sind dagegen eher immun) geschaffen, bedient und repräsentiert werden. Ähnliches haben wir unter Hitler und Mao erlebt und erleben es heute in Nordkorea. Uns bleibt die Hoffnung, dass Xi sich nicht hier einreiht. 

Die Oligarchie ist tot, denn die Oligarchen gibt es nicht mehr – es gibt nur noch superreiche Russen. Die Oligarchie hatte bedeutet, dass ihre Protagonisten großen Einfluss auf die Geschicke des Landes und v.a. auf die Politik mit seinem Spitzenpersonal nehmen konnten – unvereinbar mit der Putinschen Machtpyramide – besser: Machtsäule. 

Innenpolitische Gegner, die die Macht und die geheimdienstlichen oder militärischen Möglichkeiten hätten, Putin abzusetzen, sind nicht in Sicht. Viele Generäle und führende Geheimdienstler sind entmachtet, abgesetzt oder im Gefängnis. Die Erreichung von Putins ursprünglichen Kriegszielen ist jedenfalls krachend gescheitert: 

  • Der Westen, die EU und die NATO Staaten sind geeinter denn je, niemand würde mehr vom Hirntod der NATO sprechen. 
  • Durch den Beitritt von Schweden und v.a. Finnland hat sich die NATO-Russland-Grenze nahezu verdoppelt. 
  • Schwere Waffen und NATO Truppen hatte es bis 2014 nicht an der russischen Grenze gegeben; nur nach dem Einmarsch in die Ost-Ukraine und der Annexion er Krim wurden ca. 4000 Soldaten im Baltikum postiert. Das wird sich ändern: die gesamte Ostgrenze der NATO wird mit Truppen und schweren Waffen geschützt werden (müssen). 

Ein neuer kalter Krieg mit waffenstarrender Ostgrenze wird Europa auf absehbare Zeit in Atem halten. 

Also wird die Zukunft Russlands und Putins durch den Krieg bestimmt. 

Es wird wahrscheinlich ein langer Krieg werden, denn der Grund für diesen ist ja eben nicht die Angst vor der NATO, wie immer wieder kolportiert wird, sondern das Ziel ist die Zerstörung der Ukraine. Wenn eine Seite keinen Frieden will, würden auch Friedensverhandlungen nur dazu dienen, Zeit zur Neuaufstellung für die nächste Kriegsrunde einzuräumen. Erst wenn beide Seiten glauben, durch eine Fortführung des Krieges keine Vorteile mehr zu erlangen, können Verhandlungen beginnen. Man kann durchaus geteilter Meinung sein, ob dieser Zustand schon erreicht ist, ob durch den Stellungs- und Abnutzungskrieg noch substantielle Frontverschiebungen möglich sind. Entscheidend für diesen Kriegszustand ist aber nicht die Realität, sondern die Perzeption der Kriegsparteien. Putin und die USA werden sich darüber verständigen. Die veröffentliche Meinung Nur die Ukrainer können über ihre Zukunft entscheiden ist ein weiterer Metaphernschwindel. 

Mehr als nur eine Randnotiz ist der Gedanke von Volker Rühe, den wir kürzlich diskutierten. Die NATO hat es vor Kriegsbeginn versäumt, Putin mit einem massiven Gegenschlag im Falle eines Angriffes zu drohen. Er, der nur die Sprache der Macht und der Härte versteht, hätte reagiert. Am Ende des Krieges, am Ende einer Verhandlungslösung, wird in jedem Fall die enge Einbindung des Westens in die Zukunft des Konfliktes stehen, denn wer, wenn nicht wir, die NATO, wird die absolut notwendigen Sicherheitsgarantien für die Ukraine abgeben können? Möglicherweise ist das auch ein Grund, weshalb der Krieg einfach nur geführt, aber nicht erklärt wird. 

Die Folgen des Krieges in Russland? 

  • Je länger der Krieg anhält, umso schwieriger ist die Aufrechterhaltung des Narrativs, die Ukraine müsse von Faschisten und Antisemiten gesäubert werden. Die Soldaten machen vor Ort andere Erfahrungen. 
  • Je länger der Krieg anhält, umso stärker die gesellschaftlichen Auswirkungen durch die Soldaten, die heimkehren – v.a. durch die, die nicht heimkehren. 
  • Je länger der Krieg anhält, umso gravierender die wirtschaftlichen Auswirkungen durch die westlichen Sanktionen – erst die Isolation, dann die Rezession. 
  • Je länger der Krieg anhält, umso größer damit der Druck auf Putin; der Putinismus wird zumindest tendenziell geschwächt – vielleicht gekippt. 
  • Die Eliten, die in diese Freiräume hineintreten könnten, müssen wahrscheinlich alles beim Alten belassen, um sich selbst zu schützen – denn sie waren ja Teil des faschistischen Systems. 
  • Demokratische Gegenbewegungen werden deshalb eher unwahrscheinlich sein, zumal da alles Zivilgesellschaftliche systematisch zerstört worden ist.

Also: Russland wird instabiler werden. Es ist keine Demokratisierung in Sicht. Aber Russland ist nicht Nordkorea – und deshalb müssen wir trotz dieses Szenarios alles versuchen, mit Russland im Gespräch zu bleiben und es wieder in die Weltgemeinschaft einzubinden. 

2. Die neue Weltordnung 

Die Weltordnung, ihre Struktur, ihr Infragestellen, ihre Zerstörung setzen voraus, dass es eine Ordnung gibt, die man überhaupt verändern kann. Das ist aber höchst zweifelhaft. Die Charta der Vereinten Nationen beruht letztlich auf der Akzeptanz der Menschenrechte und dem Recht als oberste Prinzipien des Zusammenlebens. Davon war die Welt in den letzten 75 Jahren aber weit entfernt. Unzählige Kriege und Stellvertreterkriege wurden geführt, Begründungen waren fast immer Interessen einzelner Staaten oder Gruppen von Staaten oder Gruppierungen innerhalb der Staaten. Die Vetomächte im Sicherheitsrat machten ausführlich von ihrem Vetorecht, abgeleitet aus ihren jeweiligen Interessen, Gebrauch. Der internationale Gerichtshof in Den Haag galt für die Staatengemeinschaft im Allgemeinen, nur nicht für die Vetomächte selbst: das Recht des Stärkeren war auch während des Bestehens dieser sog. Weltordnung in Takt. Die Menschenrechte existierten nicht allgemeinverbindlich für alle Nationen, für Autokratien und Diktaturen schon gar nicht, aber auch die USA haben sie nicht ausnahmslos ernst genommen – in Persien, in Chile, im Irak, in Guantanamo. 

Andererseits hat die Globalisierung zur wirtschaftlichen Verflechtung und die Digitalisierung zu einer informatorischen Dichte geführt, die viel mehr als die UN zu einer Ordnung geführt haben – aber nicht zu einer New York-zentrierten, sondern zu einem globalen Netzwerk, in dem einzelne Staaten, Regionen, Unternehmen, Interessengruppen, Einzelpersonen miteinander in Beziehung treten. Darin ist es schwer für jede einzelne (Welt)macht, ungeteilte Aufmerksamkeit für die eigenen Vorstellungen zu bekommen. Zur Einsicht in die Überlegenheit der eigenen Vorstellungen muss man werben – und das geht am überzeugendsten durch eine überlegene Ergebnisrealität. Das hat der Westen über viele Jahre vorgelebt – und China im Übrigen auch. Diktaturen und Autokratien, die mit dieser Entwicklung sichtbarer Überlegenheit nicht mithalten können und Angst vor Informationsoffenheit haben, versuchen sich von diesem Netzwerk zu entkoppeln. Leider funktioniert die erste Strategie aufgrund der vielfältigen Krisen v.a. der Globalisierung immer schlechter und letztere aufgrund überlegener digitaler Überwachungsstrategien immer besser. 

Wenn wir davon ausgehen, dass wir in der Vergangenheit gar keine Weltordnung hatten, schon gar keine allgemein anerkannte, und es diese in der Zukunft aufgrund der

zunehmenden Multipolarität noch viel weniger geben kann, können wir nur versuchen, allgemein – zumindest von China und den USA – anerkannte Verfahrensregeln zu entwickeln, insbesondere, wie mit Konflikten umgegangen werden sollte. Die Menschenrechte werden möglicherweise von allen anerkannt werden, ihre genaue ‚Ausgestaltung‘ aber den einzelnen Staaten überlassen bleiben – so, wie es de facto ja auch schon heute ist. Deshalb müssen wir sie natürlich trotzdem verteidigen und unseren Einfluss gelten machen, dass sie möglichst umfassend und in möglichst vielen Ländern beachtet werden. Das wird aber nicht durch den Einsatz militärischer Macht und wirtschaftlicher Sanktionen, sondern nur durch das Schaffen überlegener und damit überzeugender Realitäten geschehen. 

Nur sollten wir wohl unterscheiden, ob der Fokus auf die Menschenrechte auch zum Erfolg führen kann oder eher Mittel zum innenpolitischen Zweck ist. Die Anmahnung der Menschenrechte v.a. im Zusammenhang mit Xinjiang durch westliche Politiker in Peking sind fast ausschließlich innenpolitisch motiviert. Je weniger Druck westliche Politiker auf Peking ausüben, umso größer ihr eigener innenpolitischer Rechtfertigungsdruck. Je größer der Druck von außen, umso weniger wird Xi seine Innenpolitik ändern. 

Möglicherweise war Obama aber auch der letzte US-Präsident, der die Chance gehabt hätte, mit China gemeinsam die Führung in einem Prozess der Neudefinition dieser Verfahrensregeln zu übernehmen, tatkräftig unterstützt von Europa (wir hätten nur einen gleichberechtigten SATT – Seat at the Table gehabt, wenn wir uns einig gewesen wären) und einer Auswahl der Länder des globalen Südens sowie Russlands. Das China unter Xis Führung alleine diese neue, nicht westlich dominierte Weltordnung entwickelt, ist ziemlich ausgeschlossen. Denn – wie Parag Khanna kürzlich schrieb – keine Gesellschaft auf der Welt außer China selbst will, dass China die Welt anführt. In Obamas zweiter und Xis erster Amtszeit waren die Kräfteverhältnisse zwischen den beiden Weltmächten (auch innerhalb der Länder) so, dass China ein entsprechendes Verhandlungsangebot wohl angenommen hätte. Ein UN-Mandat hätten sie zwar rechtlich, aber nicht machtfaktisch gebraucht. 

Tempi passati. Die USA und China sind heute auf einem anderen, einem konfrontativen Weg, von dem wir nur hoffen können, dass er noch umkehrbar ist und uns nicht geradewegs in die Thukydidesfalle führt. 

3. Die Rolle Chinas 

In China hat Xi im Rahmen des 20. Parteitages die kollektive Autokratie in eine 1-Mann-Dikatur verwandelt. Im ständigen Ausschuss des Politbüros (dem inneren Führungszirkel) sitzen ausschließlich Loyalisten und Nationalisten ohne – wie bisher – westliche technokratische Ausbildung und wirtschaftlicher Kompetenz: alles Brüche mit den letzten 45 Jahren aufstrebender Entwicklung. Eine Zeit des Maximum Xi beginnt. Worauf müssen wir uns einstellen? 

  • Eine aggressivere und antiwestliche Haltung, 
  • Zweitrangigkeit der Wirtschaftskompetenz – kein Wirtschaftswachstum um jeden Preis 
  • Autarkie wichtiger als Öffnung 
  • Export ja, Import nur wenn notwendig. 

Alle Diskussionen über die zukünftigen Beziehungen Chinas zum Westen führen früher oder später zur entscheidenden Frage: wird es einen Krieg um Taiwans Unabhängigkeit geben? Vergleicht man Xis Worte mit denen Putins vor dem Ukrainekrieg und unterstellt eine vergleichbare Brutalität und einen ebenfalls weitgehenden Realitätsverlust, ist es eher wahrscheinlich. Betrachtet man die – zumindest gegenwärtige – Abhängigkeit Chinas vom Handel mit dem Westen, auch von westlicher Technologie und der taiwanesischen Chipdominanz, käme das für Xi einem Selbstmordkommando gleich – so wie eben auch Putins Ukrainekrieg. 

Die chinesische Regierung hat lt. NIKKEI Asia eine Studie in Auftrag gegeben, was geschehen würde, wenn Europa, die USA und Japan gegen China Sanktion beschließen würden, wie sie es im Falle des Russlandkrieges gegen die Ukraine getan haben. Das globale BNP würde um 2600Mrd $, ca. 3%, schrumpfen, das chinesische aber um 7,6%, das japanische um 3,7, das europäische um 2,1 und das der USA um 1,3. Gravierender ist die Abhängigkeit in lebenswichtigen Einzelbereichen: beim essentiellen Grundnahrungs- und Futtermittel Sojabohnen ist China nur zu 15-20% Selbstversorger, 60% der Importe kommen aus Brasilien und 30% aus den USA. Eine unmittelbare Hungerkatastrophe könnte die Folge sein. 

Die Abhängigkeit des chinesischen und des Weltmarktes von der taiwanesischen Chipproduktion ist dabei noch gar nicht berücksichtigt: 92% der Produktion der letzten Chipgeneration (2nm) kamen 2020 aus Taiwan. 

Eigentlich bräuchte Xi die westlichen Märkte und wirtschaftliche Kooperation zum Machterhalt mehr als der Westen ihn, zumindest wesentlich mehr als die USA, weil so der contract sociale zwischen der kommunistischen Führung und dem chinesischen Volk in den letzten 45 Jahren funktioniert hat. Je geringer die Zusammenarbeit, desto mehr wird sich das auf die Bevölkerung auswirken, desto wahrscheinlicher wird eine Taiwanübernahme: lenke von inneren Schwierigkeiten mit einem äußeren Feind ab – ein vicious circle. 

Auch der gegenwärtige militärische Vergleich mit den USA spricht eher für Zurückhaltung bei den Chinesen. Einen Fehler sollte der Westen, allen voran die Amerikaner, allerdings nicht machen: China nicht als Weltmacht anzusehen mit dem Stolz einer Weltmacht und den Ansprüchen einer Weltmacht. 

Die Konsequenzen daraus sind: erstens ist eine militärische Auseinandersetzung über Taiwan in den nächsten Jahren eher unwahrscheinlich. Zweitens wird Xi – wissend um seine Situation – Vorbereitungen für ein mögliches wirtschaftliches Decoupling vorantreiben. Und drittens wird Xi den Ausbau seiner militärischen Stärke vorantreiben. 

Daraus folgt allerdings, dass sich die Situation in den nächsten 10 Jahren substantiell ändern wird. Sowohl die technologisch-wirtschaftliche Unabhängigkeit als auch die militärische Stärke werden zunehmen. Gleichzeitig wird der Druck auf Xi steigen, die häufig beschworene Wiedervereinigung mit Taiwan auch umzusetzen. Eine freiwillige Wiedervereinigung wird aufgrund der demographischen Veränderung mit der Zeit unwahrscheinlicher. Die Älteren, die sich noch mehrheitlich der Kuomintang verbunden und in erster Linie als Chinesen fühlten, nehmen ab. Die Jüngeren, die weit überwiegend auf dem Boden einer demokratischen Grundordnung stehen und sich als Taiwanesen definieren, nehmen zu. 

Xi selbst wird sicherlich nicht freiwillig abtreten. Wir müssen uns aus heutiger Sicht auf weitere 15 Jahre unter seiner Herrschaft einstellen. Je mehr Zeit verstreicht, umso stärker wird der Druck auf ihn wachsen, die Wiedervereinigung durchzuführen – egal mit welchen Mitteln. Nur so wird er auch die historische, die dritte Ära in China nach der Staatsgründung 1949 – die Xi Ära – rechtfertigen können: unter Mao stand China auf, unter Deng wurde China reich und unter Xi wird China stark. Die Wiedervereinigung ist ein geradezu notweniges Symbol. 

All das sind nicht mehr als Spekulationen auf der Basis dünner Informationen aus dem Reich der Mitte. Hoffnungsschimmer 1: Xis Worte sind auf dem letzten Parteitag nicht wie Maos in den Verfassungsrang erhoben worden. Hoffnungsschimmer 2: Die staatliche Presse spricht seit dem Parteitag nicht mehr von Xi als dem Führer des Volkes, wie er (neben Mao) noch vor dem Parteitag bezeichnet wurde. Sind das leichte Zeichen kritischer Beurteilung der 1-Mann-Diktatur? 

Hinzu kommt: Je länger ein Diktator in seiner eigenen Echokammer regiert, desto mehr Fehler wird er zwangsläufig machen und umso mehr Feinde wird er haben. Der eigene Machterhalt wird so zur Überlebensfrage. Bereits heute summieren sich die Fehler, die eine erfolgreiche Zukunftsgestaltung immer schwieriger werden lassen: Die Privatwirtschaft wird zugunsten staatlicher Lenkung zurückgedrängt, Chinas Integration in die Welt und den Welthandel wird – freiwillig und unfreiwillig – reduziert, die Außenpolitik wird nach amerikanischen Vorbild aggressiver, Covid wurde ideologisch und nicht medizinisch behandelt und die (durchaus streitbare) Kollektivführung unter Deng, Zeming und Hu wird durch eine 1-Mann-Dikatatur ersetzt. 

Zu diesen möglicherweise lebensgefährlichen Fehlern gesellt sich die Vergangenheit. In seinen ersten 10 Jahren hat Xi unter dem Deckmantel der Korruptionsbekämpfung 600.000 Funktionäre, Manager, Unternehmer ihrer Ämter enthoben und ausgetauscht. Viele waren korrupt, aber nicht alle. Die letzte sichtbare Aktion war die gegen seinen Vorgänger Hu Jintao, der, neben ihm sitzend, aus dem Parteitagsgebäude geführt wurde. Ein deutlicheres Machtsignal gibt es nicht. Deshalb wird Xi sein Machtgebäude aufrechterhalten müssen, damit es ihm nicht genauso ergeht. 

Die Machtfülle und der Mangel an Zweitmeinungen ist größer als bei allen chinesischen Vorsitzenden seit Mao. Xi hat sich von den Zielen, die die chinesische Führung seit 45 Jahren lenkt, nämlich gesellschaftliches Wohlbefinden und fühlbar steigender Wohlstand, partiell verabschiedet. Sicherheit in vielfältiger Definition steht jetzt an erster Stelle – und die definiert Xi selbst, nach innen und nach außen. Xi ist mehr Mao als Deng. 

Das eigene Machtgebäude aufrecht erhalten zu müssen hat er im Übrigen seit dem 20. Parteitag diesen Jahres mit Putin – neben dem Antiamerikanismus – gemein. Beides verbindet sie. Sonst so gut wie nichts. 

4. Die Rolle des Westens, der USA und Deutschlands 

Anstatt den Teufelskreis des Decouplings zu durchbrechen, scheint der Westen alles daransetzen, ihn auch noch zu beschleunigen. Pelosis Taiwanreise war ein katastrophales Zeichen, ebenso wie die Reisen deutscher Bundestagsabgeordneter, die das in völliger Verkennung geopolitischer Machtverhältnisse bestenfalls zur Selbstüberhöhung aus Selbstüberschätzung machen. Die Beendigung der ambiguous diplomacy nach 45 Jahren durch Trump, die in der Biden Ära aus innenpolitischen Zwängen eine Fortsetzung erfährt, wird sich im Nachhinein als einer der größten geopolitischen Fehler der Nachkriegszeit herausstellen. Strategische Klarheit zwingt zu Entscheidungen; hier war die Unklarheit die Basis der friedlichen Koexistenz. Eine Machtübernahme der MAGA-Trumpisten wird die Decoupling-Bestrebungen Chinas weiter beschleunigen und damit dieses Szenario schneller Wirklichkeit werden lassen. Die USA können sich ein Decoupling am ehesten leisten, Europa und China (Asien insgesamt) wesentlich weniger. Denn Nordamerika deckt nur 14% des globalen Handels ab, Europa und Asien zwischen 35 und 40%. Uns bleibt gar nichts anderes übrig, als unsere Außen(wirtschafts)politik interessengetrieben, kooperativ, realpolitisch zu betreiben – gegenüber China und den USA – so es denn beide zulassen. Ein Balanceakt. In diesem Kontext habe ich den Chinabesuch des Bundeskanzlers Anfang November in China auch für nicht nur vertretbar, sondern sinnvoll gehalten. 

Wir werden sehr vorsichtig manövrieren müssen, denn der Außenhandel mit China beträgt immer noch 250Mrd€. Der Automobilsektor würde um 8-10% zurückgehen, der chinesische Markt ist heute 20Mio Fahrzeuge groß und soll bis auf 50Mio wachsen. Er ist zur weltweiten Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Automobilindustrie notwendig. Sie ist bei einem weitgehenden Decoupling im Falle einer Großkrise wirklich gefährdet, wenn die Entwicklung einer neuen Oberklassenplattform Milliarden kostet, in Deutschland aber nur noch 6% davon abgesetzt. 

Die Berichterstattung in den deutschen Medien ist wenig hilfreich, wenn ein HighTech-Unternehmen oder die Autoindustrie mit einem von vielen Hafenterminals gleichgesetzt wird. 

Im Mittelstand wird es vornehmlich die berühmten global hidden champions treffen, die sehr häufig Einproduktunternehmen sind und einen signifikanten Umsatzanteil in China verkaufen. 

Ein Terminal von vielen im Hamburger Hafen spielt dagegen keine Rolle: Wenn im Falle eines Konflikts die Chinesen keine Container mehr über Hamburg und stattdessen über Rotterdam und Antwerpen nach Europa brächten (wenn es dann in dem Falle überhaupt noch welche gibt), dann würde Hamburg so dastehen wie schon heute, wenn wir den Anteilserwerb unterbunden hätten. In den anderen europäischen Häfen besteht die Anteilsverflechtung schon lange. 

Eine differenzierte Betrachtung wäre erhellend und notwendig. Es scheint zu viel verlangt zu sein. 

In den USA findet der Trumpismus im Lager der Republikaner nach wie vor großen Zuspruch. Viele Abgeordnete und sogar Senatoren, die zur Wahl standen, leugnen den Wahlausgang noch immer. Der 6. Januar wird von der republikanischen Mehrheit nicht verurteilt. Und Trump hatte für Putins Überfall auf die Ukraine eher Bewunderung als Ablehnung übrig. 

Man wünschte sich, dass die Amerikaner zumindest einem ihrer eigenen Helden in der Literatur zuhören würden: Tatsachen muss man kennen, bevor man sie verdreht (Mark Twain). 

Nun haben die Midterms in den USA nicht zu einem roten Tsunami geführt. Die Senatssitze konnten sogar knapp ausgebaut werden und im Repräsentantenhaus ist der Vorsprung der Republikaner äußerst knapp. Und Trump ist angeschlagen aus den Wahlen herausgekommen. Wir sind gerade als Deutsche sicherlich gut beraten, nicht leichtfertig in den Abgesang der amerikanischen Demokratie einzustimmen. Sie ist nicht nur wesentlich älter, sondern hat auch wesentlich mehr Widrigkeiten ausgehalten als unsere. Trotzdem scheint der Wahlausgang eher eine vorübergehende Erleichterung in der vernunftbasierten Politik, v.a. Geopolitik Amerikas zu sein. Die Republikaner scheinen zwar nicht mehr uneingeschränkt Anhänger von Trump, wohl aber von einem Trumpismus ohne Trump zu sein, wenn man v.a. auf den triumphalen Sieg von Ron de Santis in Florida schaut: ein intelligenter Trumpklon mit höherer Bildung und besseren Manieren – und deshalb viel gefährlicher als das Original. Außerdem hat der neue republikanische Mehrheitsführer im Repräsentantenhaus, Kevin McCarthy, als erstes verlautbaren lassen, dass sie nun die Demokraten vor sich hertreiben und Biden mit Untersuchungsausschüssen und Amtsenthebungsverfahren überziehen werden. Nichts hat sich seit 2009 verändert, als der damalige Mehrheitsführer Mitch McConnel beim Antritt von Obama sagte: We will make this President fail! Was für ein feindseliges, egozentrisches Demokratieverständnis! Auch wenn es noch viel zu früh für Prognosen ist, aber Stand heute stehen die Chancen für die Republikaner bei den Wahlen 2024 nicht schlecht – nicht zuletzt deshalb, weil die Demokraten bisher keine überzeugenden personellen Alternativen präsentieren können. Eine Demokratie, die ureigenste demokratische Prinzipien nicht ernst nimmt, kann kein überzeugender Führer der westlichen Welt sein. 

Die USA schlagen offensichtlich keinen Weg der Annäherung an und des Zugehens auf China ein. Änderungen dieser Haltung sind nicht zu erwarten, da dieser Antagonismus das einzig verbindende Element zwischen Demokraten und Republikanern ist – gestützt auf eine 75prozentige feindselige Haltung der Bevölkerung gegenüber China. Deshalb steht zu befürchten, dass sie auch uns nur einen begrenzten Spielraum für eine eigenständige Chinapolitik zugestehen werden. Dafür haben die USA ein zu hohes Erpressungspotential: wer, wenn nicht sie sollten unsere Sicherheit und Freiheit gegen einen größenwahnsinnigen Diktator wie Putin verteidigen. Wir haben noch einmal Glück gehabt – niemand sollte glauben, dass Trump uns/die Ukraine gegen Putins Aggressionen verteidigt hätte. Für ihn ist Putin ein Held und Europe ein schwaches, sklerotisches Gebilde. Und wer weiß, ob ein Trumpklon das anders sieht. 

Auch in Asien wird die Konfrontation zwischen China und den USA äußerst kritisch gesehen – und als Auslöser werden die USA eher gesehen als China – das den Fehdehandschuh allerdings dankbar aufgenommen haben. 

Die Trilateral Commission hat sich im November in Tokio getroffen; dabei hat sich vor allem die Aisa Pacific Group lt. Nikkei deutlich positionieret. Diese Aussagen geben ein Bild. 

  • We must engage China. If we force countries to choose sides, the Southeast Asian nations will choose China. The key is to not force them to choose.“ 
  • We feel that the U.S. policy toward Asia, especially toward China, has been narrow-minded and unyielding. We want the people in the U.S. to recognize the various Asian perspectives.” 
  • „When two elephants fight, the ants get trampled. And we’re feeling it. When two elephants fight to the death, we will all be dead. And the question is: What for?“ 

Insbesondere die – äußerst distanzierte – Haltung Indiens zu China wurde deutlich: 

  • „For everybody focused on the Ukraine war, I urge you to look at the fact that there are 120,000 soldiers from India and China in an eyeball-to-eyeball faceoff for the last three years.” 
  • „India has gone out of its way to drive Chinese investment out of the country. China’s foreign direct investment to India fell 74% last year. Not because China didn’t want to invest, but the Indian government did not want Chinese companies to be inside the countr.,“ 

Ein langjähriges Mitglied der Trilateral Commission brachte es auf den Punkt: “We edged toward a nuclear confrontation (Mitte November in der Ukraine) because of the type of zero sum games that us elders are playing. Is this what you want for your future? You don’t want a situation in the future where everybody’s edging toward the cliff and being macho about it without realizing that this is a zero-sum game that could wipe out the planet. It is beyond climate change.“ 

Wir wissen, dass sich die USA Asien zuwenden werden (spätestens seit Obama). Wir wissen, dass wir eine Führungsrolle im Nahen Osten übernehmen werden müssen. Wir können nur hoffen, dass Europa in der amerikanischen politischen Zukunft noch eine so wichtige Rolle spielen wird wie unter Biden und dass die USA nicht den atomaren oder sogar den konventionellen Schutzschirm über Europa zusammenfalten werden. In der Chinafrage sollten wir einen engeren Schulterschluss mit Asien ex China anstreben. 

Deutschland hat es vorgezogen, sich militärisch vollständig zu entblößen und sich im Märchen vom ewigwährenden Frieden mit der gleichnamigen Dividende gemütlich eingerichtet. Der 100Mrd Fond für die Bundeswehr ist kaum mehr als das Füllen peinlicher Lücken, also mehr als notwendig. Da wir uns diesen ‚Luxus‘ geleistet haben (neben der energiepolitischen Abhängigkeit von Russland und einer übermäßigen wirtschaftlichen Verflechtung mit China) – und damit komfortabel gelebt haben, werden wir in absehbarer Zeit keine eigenständige Geopolitik betreiben können, so schmerzlich das auch in Zeiten unberechenbarer amerikanischer Außenpolitik ist. 

Wenn wir denn unser Schicksal auch zukünftig nur mit den USA gemeinsam definieren können, dann nur in folgendem Szenario: 

  1. Einigung innerhalb der EU über eine gemeinsame Sicherheits-und Außenpolitik als Voraussetzung für bilaterale Gespräche, die nicht ausschließlich von den US-Interessen dominiert werden. 
  2. Einbindung unserer wirtschaftlichen Interessen in diese Außen- und Sicherheitspolitik
  3. Gezielte Entflechtung von China ohne Decoupling 
  4. Einbindung des globalen Südens als dem nächsten wirtschaftlichen und machtpolitischen Schlachtfeld zwischen China und dem Westen.

Und: eine neue Weltordnung gemeinsam entwickeln, anstatt sie – auf wirtschaftlichem und in der Folge auf militärischen Feld – auszukämpfen. 

Deutschland wird dabei aufgrund seiner Wirtschaftsmacht eine Führungsrolle – gemeinsam mit Frankreich – spielen müssen und Frankreich ohnehin aufgrund seiner relativen militärischen Macht. Diese Führungsrolle wird – teilweise zähneknirschend – auch gewollt in Europa, wobei wir die sich häufenden emotionalen Angriffe anderer europäischer Staaten aushalten müssen. Einerseits ist es richtig, dass v.a. die osteuropäischen Länder uns seit Jahren die fast vollständige Abhängigkeit von russischem Gas vorhalten. Andererseits mahnen auch sie eine Führungsrolle an. Und wir haben jedes Recht selbstbewusst darauf hinzuweisen, dass wir über eine Million Ukrainer aufnehmen, dass wir jede Menge Flüchtlinge aus anderen Ländern aufnehmen, dass wir sehr wohl Waffen in die Ukraine schicken (nur nicht nach Selenskyjs Wunschliste), dass ein wirtschaftlich gesundes Deutschland für die Zukunft ganz Europas notwendig ist, und dass Deutschland für über ein Drittel aller europäischen Schulden bereits geradesteht. Ein wenig mehr Patriotismus, nicht Nationalismus, würde uns und Europa guttun. 

Wir werden heute mit einer Fülle von Großkrisen konfrontiert, von denen schon jede einzelne unsere ganze Kraft – politisch, emotional und finanziell – erfordern würde. 

  • Die Ukraine- oder besser Russlandkrise ist z.Zt. politikbestimmend. Die Sanktionen sind richtig, wirken aber eher mittel- bis langfristig. Wir werden den Krieg noch lange spüren – die Ukrainer mit tausenden von Toten und dem Versuch, den nächsten Winter zu überleben, wir mit Einschränkungen in unserem Wohlbefinden. 
  • Die innere (Demokratie)krise der USA und ihre neue geopolitische Ausrichtung nach Westen macht einen transatlantischen Neuanfang notwendig: höhere Verteidigungsausgaben, größere Verantwortungsübernahme in der europäischen Selbstverteidigung und im Verhältnis zu den europäischen Anrainern Naher Osten und Afrika. 
  • Die innere chinesische Krise zwingt uns die Neudefinition unserer Chinastrategie auf – bei gleichzeitigen unterschiedlichen Interessen zwischen den USA und uns. (Die jüngst bekannt gewordenen Papiere aus dem Hause Habeck sind sicherlich kein tragfähiger Weg.) 
  • Die Coronakrise haben wir – mit viel Geld, das wir nicht hatten – zumindest vorübergehend gemeistert. 
  • Die Flüchtlingskrise ist uns in Erinnerung als die von 2015. Wir merken nur schleichend, dass wir mitten in der nächsten stecken. Eine Million Ukrainer sind bereits bei uns und die Kommunen schlagen Alarm. 
  • Die Klimakrise macht keine Pause – nur wir machen den Realitäten des russischen Angriffskrieges geschuldet eine Pause. 

Norbert Röttgen fordert in seinem Manifest in Zeiten des Krieges Nie wieder hilflos eine Politik des Jetzt. Die Lösungen müssen jetzt formuliert und jetzt umgesetzt werden, weil sie jetzt existieren und ihre fatale Wirkung entfalten. 

Leider ist es nicht so, dass wir uns nur mit weltweiten und geopolitischen Krisen auseinander zu setzen hätten. Gleichzeitig treffen uns mit zunehmender Wucht die Versäumnisse der Vergangenheit im Inneren. 

  • Die Sozialstaatsquote hat sich zwischen 1990 und 2010 von 24,1 auf 29,8% des BSP erhöht, 2021 lag sie bei 32,5%. Das müsste nicht zu bemängeln sein, wenn die Sozialsysteme auch reformiert anstatt nur erweitert worden wären. 
  • Das Bildungssystem ist der Kern der zukünftigen Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands. Alle sagen es, alle wissen es seit Jahrzehnten: Bildung ist der einzige Rohstoff, den Deutschland besitzt. Trotzdem verschlechtert sich unsere relative Bildungsqualität im internationalen Leistungsvergleich ständig, und der anachronistische Bildungsförderalismus scheint unrefomierbar. In einem Bildungsmonitor (0-100) lagen 2021 Sachsen und Bayern bei 66 und 64 und Bremen bei 42. Besserung scheint nicht in Sicht zu sein. Derzeit fehlen in den MINT Fächern 340.000 Arbeitskräfte und die Zahl der Studienanfänger ist in den letzten 5 Jahren von 200.000 auf 170.000 zurückgegangen. 
  • Die Verbesserung der digitalen Infrastruktur wird seit Jahren beschworen. 2020 lag Deutschland bei der Internetgeschwindigkeit auf Rand 25. Taiwan, Singapore, Japan liegen unter den ersten 5, aber auch Schweden und Dänemark. Auf den 5G-Standard können 62 Prozent der europäischen Bevölkerung zugreifen, in den USA und in Südkorea sind es 94 Prozent. In New York ist das letzte Telefonhäuschen abgebaut worden – 2015 gab es noch 8000. Das endgültige Ende der Analogära – zumindest in NY. 
  • Die physische Infrastruktur – Bahnen, Straßen, Brücken, Schulen etc – benötigt schätzungsweise €1000Mrd in den nächsten 10 Jahren, um zukunftsfähig zu werden. Das ist im Übrigen nicht verwunderlich; sie wurde vor 50-70 Jahren errichtet. Deshalb gibt es in Wirtschaftsunternehmen Abschreibungen, damit man sich wieder neue Maschinen leisten kann. 
  • Über die Bürokratie (Deutschland und Europa) ist schon zu viel lamentiert worden. Aber es scheint auch die neue Bundesregierung daran zu scheitern, sämtliche Verfahren zu beschleunigen. Norbert Röttgen machte den revolutionären Vorschlag, Deutschland innerhalb Europas den rechtlichen Status einer Sonderwirtschaftszone einzuräumen – zumindest in den Sektoren der Klima- und Energietransformation. 

Warum müssen wir so viele Herausforderungen gleichzeitig, alle JETZT angehen? Weil wir uns in der Vergangenheit nicht hinreichend um die Zukunft gekümmert haben. Denn wir haben uns in den letzten 15 Jahren um das damalige Jetzt gekümmert. Die Zukunft kam nicht vor. Man kann über die Gegenwartsentscheidungen der Vergangenheit, in der Finanzkrise, der Flüchtlingskrise, der Griechenlandkrise etc. unterschiedlicher Meinung sein. Insgesamt sind wir sicherlich gut durch die vergangenen Krisen gemanagt worden. Die große Bürde der Gegenwart liegt weniger in der Qualität der Entscheidungen der Vergangenheit, als vielmehr in den Folgen der Nicht-Entscheidungen – geopolitisch und innenpolitisch. 

Bei diesen Betrachtungen dürfen wir eines nicht vergessen: sie gelten mit wenigen Ausnahmen für alle hochentwickelten Länder. Und Deutschland befindet sich noch eher in den oberen Rängen. 

Deutsche Politiker werden sich daran gewöhnen müssen zu führen im Inneren wie im Äußeren. Das eine gebietet die Zukunftsfähigkeit Deutschlands – nicht zuletzt als Voraussetzung für die europäische Führungsrolle. Das andere wird von den USA eingefordert und von China gewünscht (mit unterschiedlichen Zielen) und ebenso von Europa. Die Fortentwicklung Europas wird ohne eine deutsche Führungsrolle nicht möglich sein. 

Bisher hat Deutschland in den letzten 30, nicht nur 15 Jahren immer versucht, die Probleme, Krisen und Herausforderungen mit Geld zuzuschütten. Und wir haben uns alle damit wohlgefühlt. Peter Sloterdijk sagt dazu: Aufs Ganze gesehen strebt der Zivilisationsprozess darauf hin, das Verlangen der Menschen nach Erlösung, wie es sich in der religiösen Periode der Menschheit manifestierte, abzulösen durch ein Streben nach Erleichterung. Dafür ist der Kapitalismus als solcher wohl nicht verantwortlich, aber der popularisierte Kreditismus, das Kreditsystem für alle. Das liefert die Mittel zur Beschleunigung des Genießens. 

Die Gelddruckpresse alleine wird nicht mehr reichen. Wir müssen der deutschen Bevölkerung sagen, dass es eben nicht die Aufgabe des Staates ist, jedes Problem, jede Krise und jede Herausforderung vollkommen abzufedern, so dass die Bürger möglichst wenig davon merken. Es übersteigt unsere Möglichkeiten. Nur wenn der Bürger die Krisen merkt, wird er Veränderungen mittragen. Es sind unsere Erleichterungen, für die wir später am bittersten bezahlen (Friedrich Nietzsche). 

Notwendig ist vielmehr eine 180°-Wende der Beschwichtigungs- und Wohlfühlpolitik, die – wohlgemerkt – von den Wählern gewünscht und goutiert wurde. Wir haben die Konfuzianische Einsicht Wer ständig glücklich sein will, muss sich häufig verändern schon seit Langem verloren. Ohne den politischen Mut zur Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit wird es nicht gehen. Und ich bin davon überzeugt, dass die Bevölkerung das nicht nur belohnen würde, sondern sogar erwartet. Die Wahrheit ist den Menschen zuzumuten (Ingeborg Bachmann). Sie sehen doch auch, dass immer mehr Krisen, die mit immer mehr Geld zugeschüttet werden, uns – vor allem aber unseren Kindern – die Zukunft verbauen. Die ersten Monate Habeckscher Krisenkommunikation haben die Anerkennung einer aufrichtigen Ansprache gezeigt. Leider musste dann doch der politische Pragmatismus mit authentischer Kommunikation parteipolitisch motivierten Fehlentscheidungen weichen. 

Wird diese Bundesregierung den Mut aufbringen und verfügt sie über die Fähigkeiten, die großen Zukunftsfragen inklusive aller Konsequenzen offen und ehrlich mit der Bevölkerung zu diskutieren? Das ist die entscheidende Frage. J.W. Goethe gibt uns Mut: Wenn wir Menschen behandeln, wie sie sind, dann machen wir sie schlechter. Wenn wir sie behandeln, wie sie sein sollten, dann bringen wir sie dahin, wohin sie zu bringen sind. 

Wo liegt das Hauptproblem? Wenn Menschen politischem Führungspersonal folgen sollen, ist Vertrauen die Grundvoraussetzung. Und damit ist es in der westlichen Welt einschließlich Deutschlands nicht zum Besten bestellt. 

Das Edelmann Trust Barometer von 2022 gibt wenig Anlass zur Hoffnung. Government and Media Fuel the Cycle of Distrust war die Überschrift – verstörende und für die offene Kommunikation gegenüber der Bevölkerung erschwerende Ergebnisse. 

  • Das Vertrauen hat von 2021 auf 22 in Deutschland signifikant abgenommen (alle Werte in %): in die Regierung von 59 auf 47, in die Medien von 52 auf 47, in die Geschäftswelt von 54 auf 48. Nur 31 % trauen der Politik die Lösung gesellschaftlicher Probleme zu. 
  • Insgesamt ist die Vertrauenslücke zwischen Menschen mit hohen und niedrigen Einkommen auf 21 Punkte (!) angewachsen – das Ausfransen der politischen Ränder. 
  • Und die Zukunftserwartungen in die Verbesserung der eigenen Lebensumstände sind hoch in aufstrebenden Ländern und Autokratien und beim all-time-low in den wohlhabenden Demokratien: Japan, Frankreich, Deutschland liegen mit 15-20% ganz unten, USA noch bei 40% und China bei 60%, Indonesien bei 80%. 

Führung wird Europa in diesen Zeiten brauchen. Führung ohne Führungswillen wird es nicht gehen. Führung ohne Kritik wird es auch nicht geben. Aber Führung ohne Führungsfähigkeit wird sicherlich niemand akzeptieren. 

Die nachhaltige Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands ist deshalb eine notwendige Voraussetzung für die Zukunft Deutschlands, Europas und damit unserer Führungsfähigkeit. Hier scheinen uns aber zusehends die PS auszugehen; dass es anderen Ländern noch schlechter geht, ist weder Trost noch Rechtfertigung. 

Ich habe in vergangenen Weihnachtsbriefen wiederholt angemerkt, dass Investitionen von 1-2% der Wirtschaftsleistung in die Zukunft Deutschlands sinnvoller gewesen wären als dem 60%-Maastrichkriterium zu huldigen und die Überschüsse in den Schuldenabbau zu stecken. Wir haben trotzt niedriger Zinsen viel Geld ausgegeben – aber eben in konsumtive anstatt investive Zwecke. Diese goldenen Zeiten der Schwarzen Null werden nicht wieder kommen. Müssen wir deshalb nicht über andere Lösungen nachdenken? 

Zum Beispiel: Wir investieren in den nächsten 10 Jahren 700Mrd€ in unsere Zukunft – gehebelt mit weiteren 700Mrd privater Gelder – und erhöhen dabei den Verschuldungsgrad von 70 auf vielleicht 85% des BSP. Wir investieren in Brücken, Bahnen, Digitalisierung, Schulen, Universitäten, Innovationen. Mit einem Verschuldungsgrad von 85% lägen wir immer noch deutlich besser als die anderen großen europäischen Länder, in denen links- und rechtspopulistische Parteien ihre hohen Verschuldungen dazu nutzen, die Renten zu erhöhen und das Renteneintrittsalter herunterzusetzen und höchsten die Gelder der EU für investive Zwecke nutzen – wenn überhaupt. Für deren Schulden stehen wir aber ohnehin zu 37% gerade. Und wir würden in Deutschlands und Europas Zukunftsfähigkeit investieren. 

Wir haben seit Ende 2019 die öffentlichen Schulden um ca. € 400Mrd erhöht, den größten Teil für die soziale Abfederung der Auswirkungen der Krisen auf die Bevölkerung, die das naturgemäß – ebenso wie die meisten Ökonomen akzeptieren und goutieren. 200Mrd werden für die Energiepreisbremse bereitgestellt. So notwendig das für den sozialen Frieden in Deutschland auch sein mag – Schuldenaufnahme für konsumtive Ausgaben verbrauchen und verbauen die Zukunft, nur investive Ausgaben können sie erleichtern. Natürlich sind geringe Schulden besser als hohe Schulden – aber wenn schon Schulden, dann die richtigen und nicht die falschen. Und im Windschatten der großen Diskussionen legt der Bundesarbeitsminister ein Programm nach dem anderen auf und erhöht damit die Sozialstaatsquote. Warum findet diese Diskussion nicht in den Medien prominent statt? 

Mir ist bewusst, dass allen konservativen Freunden jetzt die Haare zu Berge stehen. Viel Geld ist aber leider notwendig, um Deutschlands und Europas Zukunft zu gestalten. Den Tsunami an Kritik aus den anderen EU-Ländern, wenn wir etwas für uns selbst tun, müssen wir aushalten. Wir würden es für uns und für Europa tun. 

Der Schutz unserer Lebensgrundlagen und die Aufrechterhaltung unseres Wohlstandes, also die Basis des Vertrauens in unser freiheitlich demokratisches System, müssen zukünftig oberste Priorität haben. Das ist die hinreichende Bedingung für die Zukunftsfähigkeit unserer Demokratie, die Verteidigung unserer Freiheit ist die notwendige. 

Wir alle und die Politiker, müssen begreifen, dass die Überlegenheit eines politischen Systems sich nicht in einer moralischen Überlegenheit manifestiert. Sie muss sich in der Realität beweisen, indem es den eigenen Bürgern ein überlegenes Leben bietet. Abraham Maslow hat das bereits 1943 in seiner Theorie der menschlichen Bedürfnispyramide dargelegt. Der Mensch erwartet, dass seine Bedürfnisse in dieser Reihenfolge befriedigt werden: 

  1. Physiologischen Bedürfnissen (Luft, Wasser, Essen, Wärme),
  2. Sicherheitsbedürfnisse (persönliche Sicherheit, Arbeit, Gesundheit), 
  3. Bedürfnis nach Liebe und Zugehörigkeit (Freundschaft, Familie, soziale Beziehungen)
  4. Bedürfnis nach Anerkennung (Respekt, Selbstbestätigung, Status, Anerkennung, Freiheit)
  5. Bedürfnis nach Selbstverwirklichung (Das Beste aus seinen Möglichkeiten machen können).

Und die Befriedigung der unterschiedlichen Bedürfnisse definiert eine notwendig einzuhaltende Rangfolge, also ohne den Hunger gestillt zu haben, interessiert mich die Sicherheit weniger; die Anerkennung interessiert mich erst dann, wenn ich satt, sicher und mich in Familie und Freunden geborgen fühle. Die Selbstverwirklichung setzt notwendig die Erfüllung aller anderen voraus. 

Im Vergleich der politischen Systeme dürfen wir nicht verkennen, dass auch das Bedürfnis nach Freiheit und Selbstbestimmung erst dann mächtig und möglicherweise auch handlungsleitend wird, wenn die Basisbedürfnisse gestillt sind. Das gilt für alle Nationen weltweit. Autokratien (z.B. China) und auch hybride Systeme (z.B. Singapur) begründen darauf häufig ihren Vertrag mit dem Volk: Euch geht es immer besser und Ihr überlasst uns die Führung. Deshalb ist auch die Aufrechterhaltung dieses Vertrages für die chinesische Führung von entscheidender Bedeutung – in den letzten 1-2 Jahren hat er Risse bekommen. Allerdings ist die Stufe 3 (Zugehörigkeit zur Familie) in der konfuzianischen Kultur wichtiger als das Ausleben von Selbstverwirklichungs- und Freiheitsrechten. Eine diktatorische Führung kann dort auch ohne wirtschaftlichen Erfolg länger überleben als in einer Demokratie. 

Die Maslowsche Bedürfnispyramide gilt natürlich auch und v.a. in den wohlhabenden westlichen Demokratien. Wir haben uns daran gewöhnt, dass die Basis der Pyramide steht. Unsere Eltern und wir haben sie – insbesondere in Deutschland – nach dem Krieg selbst aufgebaut. Heute scheint es, als würden wir einen nicht enden wollenden Veitstanz auf der Spitze der Maslowschen Bedürfnispyramide aufführen, ohne zu merken, dass die unteren Schichten der Pyramide langsam zu bröckeln beginnen. Wenn das Gendern wichtiger wird als die Aufrechterhaltung der Infrastruktur und Digitalisierung, wenn das Geschlecht nicht 

mehr biologisch, sondern soziologisch definiert wird, und dieselben Personen es gleichzeitig ablehnen, die Verteidigungsfähigkeit so zu stärken, dass wir unsere Freiheit verteidigen können, verspielen wir unsere Zukunft. Die relative Wichtigkeit der Umweltpolitik und Energietransformation dagegen ist richtig, sie gehören zu den Basisbedürfnissen 1 und 2. 

Deshalb habe ich die massiven Investitionen in unsere Zukunft angemahnt, auch um den Preis höherer Schulden. 

Der Systemvergleich führt mich auch in diesem Zusammenhang immer wieder zu dem gleichen Schluss: die Mitte, die Ausgewogenheit ist überlebensfähig, nicht die Extreme, also weder die Vergötterung des Individuums noch das Primat der ‚harmonischen‘ Ordnung der Gesellschaft unter Anwendung aller Mittel. Würden wir es uns doch erlauben, ein wenig von den Chinesen zu lernen, und die Chinesen ein wenig von uns. Hier die Wiederentdeckung des Ordnungsrahmens (nur vermeintlich zu Lasten des Individuums, denn schon Thomas Hobbes klärte uns auf, dass es die Aufgabe des Staates sei, den Menschen vor sich selbst zu schützen), dort die Erstentdeckung des Individuums, da die harmonische Gesellschaft ohne Individuen zum Selbstzweck verkommt. Wohl eher ein frommer Wunsch. 

Alles keine strahlenden Aussichten. 

Deshalb mag uns ein Trost sein, dass Goofy in diesem Jahr 90 Jahre alt geworden ist. Gabor Steingart schrieb dazu: Heute vor 90 Jahren betrat Goofy die amerikanischen Kinoleinwände. Der beste Freund von Micky Maus bezog damit einen festen Platz in der westlichen Comic-Kultur, nicht nur in den Herzen der Kinder. Goofy blieb über all die Jahrzehnte das Sinnbild des Gemütlichen und leicht Verpeilten. Des grundlos Freundlichen. Des Loyalen. Des Menschen, der so menschlich ist, dass er so gar nicht in diese hyper-effektive McKinsey-Gesellschaft passen mag. In einer Welt, die dominiert wird von Dagobert Duck von der Wall Street und den flotten Daniel Düsentriebs aus dem Silicon Valley, da kann ein Lebemensch wie Goofy nur guttun. 

Neben diesem tröstlichen Geburtstag gebe ich vor allem den jüngeren Lesern Hermann Hesse und sein Gedicht ‚Stufen‘ mit auf den Weg. Zukunftshoffnung und Zukunftszuversicht hat es immer gegeben und wird es immer geben. 

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben. 

In diesem Sinne ein friedliches und besinnliches Weihnachtsfest und ein spannendes, friedenbringendes 2023. 

Peter Strüven 

Geschäftsstelle

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